Bundessozialgericht hält an der Vermutung eines "offenen Arbeitsmarktes“ für gering qualifizierte Versicherte fest

Das Bundessozialgericht hat in einer Entscheidung vom 11.Dezember 2019, Az.: B 13 R 7/18 R festgestellt, dass nach wie vor von einer genügenden Anzahl von Arbeitsplätzen für gering qualifizierte Versicherte, die zwar vollschichtig einsetzbar sind, aber nur noch leichte körperliche Tätigkeiten verrichten können, auszugehen ist. Es beruft sich dabei auf arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen. Nach dieser gäbe es für sogenannte "Einfacharbeit" oder Helfertätigkeiten weiterhin Arbeitsplätze in großem Umfang auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die voranschreitende Digitalisierung hätte (noch) nicht zu einem Wegfall solcher Tätigkeiten geführt.

Diese Einschätzung, spiegelt sich aus meiner Erfahrung in der Praxis nicht wider. In dem Verfahren war die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung streitig. Wird das Restleistungsvermögen mit „vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsetzbar“ eingeschätzt und kann der Versicherte sich nicht auf einen Berufsschutz stützen, dann stellt sich in der Praxis sehr häufig – insbesondere bei älteren Versicherten - die Frage, ob der Arbeitsmarkt überhaupt noch genügend dieser einfachen Tätigkeiten bereit hält. Für einen PC-Arbeitsplatz fehlen vielen die erforderlichen Vorkenntnisse. Seit langem wird beklagt, dass immer mehr einfache Arbeitsplätze wegfallen. Der Versicherten/dem Versicherten wird dann vorgehalten, ob er einen geeigneten Arbeitsplatz finde, sei nicht das Risiko der Rentenversicherung, sondern der Arbeitslosenversicherung. Doch auch bei der Bundesagentur für Arbeit und beim Jobcenter herrscht Ratlosigkeit, wie diese Versicherte in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Daran hat auch die verbesserte Arbeitsmarktlage nichts geändert.

Trotzdem kann die Entscheidung (die bisher nur als Terminsbericht veröffentlicht ist), für die Versicherten von Nutzen sein. Das Bundessozialgericht stellt erstmals ausführlicher dar, was unter einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu verstehen ist. Liegen diese vor, hat nämlich der Rentenversicherungsträger eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen und kann eben nicht darauf verweisen, dass es auf dem Arbeitsmarkt ausreichend offene Stellen gibt. Die Ungewöhnlichkeit beurteilt sich danach, wie stark die Möglichkeit eingeschränkt ist, erwerbstätig sein zu können. Das BSG gibt vor, dass jeweils im Einzelfall eine Analyse erforderlich ist, ob und durch welche Auswirkungen die Einsatzmöglichkeiten ungewöhnlich beschränkt sind. Erst wenn eine derartige Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder ggf. eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festgestellt ist, muss eine Verweisungstätigkeit konkret benannt werden. Ist diese für den Versicherten/die Versicherte nicht geeignet, ist eine volle Erwerbsminderung trotz vollschichtigem Leistungsvermögen gegeben.

Constanze Würfel Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

Zurück