Anspruch auf individuelle Schulassistenz – als Jugendhilfe oder Sozialhilfe ?

Mit Beschluss vom 22. Januar 2024 (Az. OVG 6 S 60/23) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, dass eine Grundschülerin mit einer Autismus-Spektrum-Störung Anspruch auf eine individuelle Schulbegleitung als Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Verbindung mit § 112 SGB IX hat. Die Entscheidung verpflichtet das zuständige Jugendamt, eine qualifizierte Fachkraft für 25 Stunden pro Schulwoche bis zum Ende des Schuljahres bereitzustellen.

  • 35a SGB VIII regelt die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder entsprechender Gefährdung.

Seit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes richtet sich die konkrete Ausgestaltung der Leistungen nach den Vorschriften des SGB IX, insbesondere:

  • 90 Abs. 4 SGB IX: Teilhabe an Bildung soll eine den Fähigkeiten entsprechende Schulbildung ermöglichen.
  • 112 Abs. 1 SGB IX: Leistungen zur Teilhabe an Bildung umfassen auch Hilfen zur Schulbildung, einschließlich heilpädagogischer Maßnahmen und individueller Assistenz.

Die Entscheidung betont, dass die Jugendhilfe nicht nachrangig ist, wenn die Schule den Förderbedarf nicht vollständig decken kann (§ 10 SGB VIII).

Die Antragstellerin besuchte die erste Klasse einer Berliner Grundschule und leidet neben Autismus auch an motorischen und sprachlichen Entwicklungsstörungen. Fachärztliche Gutachten, schulische Stellungnahmen und Beobachtungen belegen, dass sie ohne kontinuierliche Unterstützung nicht angemessen am Unterricht teilnehmen kann. Die bisher gewährten Schulhelferstunden und Fördermaßnahmen reichen nicht aus, um ihren individuellen Bedarf zu decken.

Das OVG sah sowohl den Anordnungsanspruch als auch den Anordnungsgrund als gegeben an. Es stellte fest, dass die Schulassistenz keine pädagogische Kernleistung der Schule darstellt, sondern eine originäre Teilhabeleistung der Jugendhilfe. Die Schule könne die notwendige Unterstützung nicht allein gewährleisten, insbesondere nicht durch wechselndes Personal oder gruppenbezogene Schulhelferstunden.

Diese Entscheidung stärkt die Rechte von Kindern mit seelischer Behinderung auf chancengleiche Bildung und stellt klar, dass die Jugendhilfe auch im schulischen Kontext zur Leistung verpflichtet ist, wenn die Schule den Bedarf nicht decken kann. Sie unterstreicht die Bedeutung individueller und qualifizierter Assistenz zur Sicherung der Teilhabe am Bildungssystem.

In vielen Fällen ist auch der Umfang der begehrten Schulassistenz streitig. Die Jugendämter negieren, dass in vielen Fällen die Schulbegleitung langfristig bzw. sogar dauerhaft erforderlich ist und legen den Umfang einseitig ohne Einbeziehung der Betroffenen fest. Das Verwaltungsgericht Leipzig hat dazu in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren Verfahren unter dem Az.: 5 L 228/23 klargestellt: 

„Welchen konkreten Umfang die Hilfeleistung haben muss, um dieses Ziel zu erreichen, bemisst sich allein am individuellen Bedarf des Hilfeempfängers, der anhand eines ergebnisoffenen, kooperativen und sozialpädagogischen Entscheidungsprozesses von Amts wegen zu ermitteln ist, vgl. § 20 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - SGB X -……Die Entscheidung der Antragsgegnerin ist aber auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil die zu beteiligenden Personen bzw. Institutionen nicht ausreichend in den Entscheidungsprozess über den Umfang der weiteren Hilfegewährung einbezogen worden sind bzw. ihre Einschätzungen nicht hinreichend gewürdigt wurden.“

In der Praxis leiten die Jugendämter den Antrag auf Schulassistenz oft an den Sozialhilfeträger weiter, weil sie sich nicht für zuständig halten oder verweisen auf eine „Abgabe“ an den Sozialleistungsträger und „vertrösten“ auf eine Entscheidung durch diesen.  Dieser Kompetenzstreit darf aber nicht auf dem Rücken der Hilfebedürftigen ausgetragen werden Der Sozialleistungsträger, an den der Antrag abgegeben wurde, wird zum leistenden Rehabilitationsträger und muss auch Leistungen, die nicht in seine Zuständigkeit fallen, also z.B.  Leistungen der Jugendhilfe, erbringen. Es besteht für diesen ggf. ein Erstattungsanspruch gegen den Jugendhilfeträger.

Leider zeigt die Praxis auch, dass dieses „Gerangel“ um die Zuständigkeit zu erheblichen Zeitverzögerungen führt und den Berechtigten daraus erhebliche Nachteile erwachsen. Unsere Rechtsordnung sieht für solche Fälle das Instrumentarium des einstweiligen Rechtschutzes vor. Wie die zitierten Entscheidungen belegen, können oft nur über diesen Weg Ansprüche kurzfristig durchgesetzt und Nachteile für die betroffenen Schüler vermieden werden.

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

 

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BSG-Urteil zu Kindererziehungszeiten: Mutter bekommt im Zweifel Zuschlag

Wenn Eltern keine gemeinsame Erklärung zur Zuordnung von Kindererziehungszeiten abgegeben haben und nicht eindeutig feststellbar ist, wer das Kind überwiegend erzogen hat, werden die Zeiten grundsätzlich der Mutter zugeordnet. Das entschied das Bundessozialgericht am 18. April 2024 in einem Verfahren zum Az. B 5 R 10/23 R.

Im konkreten Verfahren beantragte ein Vater die Zuordnung der Kindererziehungszeiten für seine Tochter. Zwar lebten beide Elternteile zunächst gemeinsam mit dem Kind, später zog die Mutter ins Ausland. Die Mutter war nur geringfügig beschäftigt, während der Vater durchgehend Vollzeit arbeitete. Eine gemeinsame Erklärung zur Zuordnung lag nicht vor und das Sozialgericht konnte keine eindeutige überwiegende Erziehungsleistung des Vaters feststellen.

Das BSG bestätigte damit die Entscheidung der Vorinstanzen, aufgrund der gesetzlichen Regelung wurde die Erziehungszeit der Mutter zugeordnet.

Dies soll die soziale Absicherung von Müttern stärken, die oft wegen der Betreuung beruflich zurücktreten und dadurch geringere Rentenansprüche erwerben. Die Regelung stelle keine Benachteiligung von Vätern dar – sie können die Zuordnung erhalten, wenn sie ihre Erziehungsleistung überzeugend nachweisen.

Was bedeutet das für Familien? Es sollte frühzeitig zwischen den Eltern eine gemeinsame Vereinbarung zur Rentenzuordnung erfolgen. Bei fehlender Einigung gilt die gesetzliche Vermutung zugunsten der Mutter. Wer die Erziehungsleistung erbracht hat, sollte entsprechende Nachweise sammeln (Meldebescheinigung über gemeinsamen Wohnsitz mit dem Kind, Betreuungsnachweise (z.B. KITA), Elternzeitbescheide, Zeugenaussagen usw).

Wer Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung geltend machen möchte, muss einen Antrag bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) stellen. Das gilt auch für die Zuordnung der Zeiten zu einem bestimmten Elternteil, wenn beide das Kind gemeinsam erzogen haben. Dafür müssen bei der DRV die Formulare V0800 (Feststellung Kindererziehungszeiten) und V0802 (Erklärung zur Zuordnung der Kindererziehungszeiten) eingereicht werden. Diese Formulare sind online verfügbar über das Serviceportal der DRV.

Wichtig ist außerdem: eine gemeinsame Erklärung der Eltern zur Zuordnung ist nur für die Zukunft und maximal zwei Monate rückwirkend möglich. Fehlt sie, wird die Zeit im Zweifel der Mutter zugeordnet.

Auch hier wird wieder einmal deutlich, rechtzeitig vorsorgen/vorbeugen ist besser als heilen - und das möglichst in friedlichen Zeiten. Das gilt bekanntermaßen nicht nur im privaten Bereich….

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

 

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Cannabis auf Kassenrezept ?

Gesetzlich Krankenversicherte haben seit März 2017 bei einer Erkrankung, die lebensbedrohlich ist oder die aufgrund der Schwere die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt, Anspruch auf die Versorgung mit medizinischem Cannabis  - in Form von getrockneten Blüten oder -extrakten sowie Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon.

Konkreteres ist in der Arzneimittel-Richtlinie geregelt – bsp.weise, dass Cannabisarzneimittel vorrangig zu verordnen sind, verglichen mit getrockneten Cannabisblüten oder -extrakten. Grundsätzlich ist – wie bei anderen Verordnungen auch – das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten.  

Der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin entscheidet, ob eine Behandlung mit cannabishaltigen Produkten für den einzelnen Patienten oder die Patientin angezeigt und sinnvoll ist. Vor der Erstverordnung stellt der Arzt oder die Ärztin für den Patienten oder die Patientin einen hinreichend medizinisch begründeten Antrag auf Kostenübernahme bei der AOK.

Darin müssen zu folgende Voraussetzungen klare Aussagen getroffen werden:

Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsalternative ist nicht verfügbar oder kann im Einzelfall nach ärztlicher Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht angewendet werden. Zudem muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehen

Stehen für die Behandlung der Erkrankungen Methoden zur Verfügung, die dem medizinischen Standard entsprechen, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese Methoden nicht zur Anwendung kommen können. Für eine derartige ärztliche Einschätzung hat die Rechtsprechung hohe Anforderungen formuliert, vgl.  BSG, Urteil vom 29. August 2023 – B 1 KR 26/22 R.

Sie muss eine Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf. Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte, die Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankungen, ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,  bereits angewendete Standardtherapien, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen; die noch verfügbaren Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei auftretende Nebenwirkungen, und die Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis enthalten.

Ärzte und Ärztinnen mit einer bestimmten Qualifikation können inzwischen medizinisches Cannabis auch ohne Genehmigung der Krankenkasse verordnen. Konkret gilt das für folgende Fachärzte und Fachärztinnen für: Allgemeinmedizin, Anästhesiologie, Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit Schwerpunkt Gynäkologische Onkologie, Innere Medizin, Innere Medizin mit den Schwerpunkten Angiologie, Endokrinologie und Diabetologie, Gastroenterologie, Hämatologie und Onkologie, Infektiologie, Kardiologie, Nephrologie, Pneumologie sowie Rheumatologie, Neurologie, Physikalische und Rehabilitative Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie.

Darüber hinaus können auch Ärzte und Ärztinnen anderer Fachrichtungen medizinisches Cannabis ohne Genehmigung der Krankenkasse verordnen, wenn sie eine der folgenden Zusatzbezeichnungen haben: Geriatrie, Medikamentöse Tumortherapie, Palliativmedizin, Schlafmedizin, Spezielle Schmerztherapie.

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Ergebnisse einer Begleitstudie ausgewertet. Seit dem 30. Juni 2023 gelten bei der Verordnung von medizinischem Cannabis u.a. folgende geänderte Regeln:

Alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte dürfen Cannabis verordnen, also auch Hausärztinnen und Hausärzte.

Die erstmalige Verordnung von Cannabis bedarf weiterhin einer Genehmigung durch die Krankenkasse. Dasselbe gilt bei einem grundlegenden Therapiewechsel. Ausnahmen bestehen für Fachärzte und Fachärztinnen mit den zuvor genannten Fachrichtungen und Zusatzbezeichnungen.

Folgeverordnungen, Dosisanpassungen oder Wechsel der Cannabisextrakte in standardisierter Form oder innerhalb der getrockneten Blüten sind jederzeit ohne Genehmigung durch die Krankenkasse möglich.

Vor einer Behandlung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten muss der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin prüfen, welche anderen cannabishaltigen Fertigarzneimittel verfügbar sind, die sich gleichermaßen zur Behandlung eignen könnten. Grundsätzlich sind diese zu bevorzugen.

Im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) bedarf es keiner Genehmigung durch die Krankenkasse mehr. Es gilt eine verkürzte Genehmigungsfrist von drei Tagen.

Wichtige Aussagen zum Rechtsanspruch auf eine Versorgung mit medizinischem Cannabis enthalten die Entscheidungen des BSG vom 10.11.2022, Az.:  B 1 KR 9/22 R und 29.08.2023, Az.: B 1 KR 26/22 R.

 

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

 

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Trotz Arbeitsunfähigkeit Urlaub im Ausland ?

Der langersehnte Urlaub steht bevor, die Vorfreude ist groß, es soll ins Ausland gehen. Und dann wird man krank…Oder die Reise soll trotz einer länger bestehenden Erkrankung möglich gemacht werden.

Wer arbeitsunfähig ist, kann eigentlich nicht zugleich Urlaub in Anspruch nehmen. Andererseits, wer arbeitsunfähig ist, muss nicht zwangsläufig zuhause im Bett liegen. Es kommt schließlich auf die Krankheit an.

Bei Reisen während einer Arbeitsunfähigkeit, insbesondere ins Ausland, ist grundsätzlich Vorsicht geboten. Es ist einiges zu beachten, wenn man keine finanziellen Verluste riskieren möchte.

Wer während des Krankengeldbezugs eine Auslandsreise durchführen möchte, sollte die Krankenkasse frühzeitig darüber informieren. Hintergrund ist, dass nach dem Gesetz der Anspruch auf Leistungen ruht, solange Versicherte sich im Ausland aufhalten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V). Der Anspruch auf Krankengeld ruht jedoch nicht, wenn sich Versicherte nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit mit Zustimmung der Krankenkasse im Ausland aufhalten (§ 16 Abs. 4 SGB V). D.h. die Versicherten müssen einen Antrag auf Zustimmung bei ihrer Krankenkasse stellen.

Um eine Ablehnung zu vermeiden, könnte der Gedanke aufkommen, ohne Zustimmung der Krankenkasse die Reise anzutreten. Das ist jedoch riskant. Erlangen die Krankenkassen Kenntnis von einem nicht im Vorfeld genehmigten Auslandsaufenthalt, wird mindestens für diesen Zeitraum kein Krankengeld gezahlt. Auch können sich durch fehlende Nachweise der Arbeitsunfähigkeit Auswirkungen auf den weiteren Krankengeldanspruch und dadurch sogar auf den Versicherungsschutz ergeben, weil die Mitgliedschaft möglicherweise nicht mehr durch den Krankengeldbezug aufrechterhalten bleibt.

Eine Auslandsreise kann nur dann durch die Krankenkasse genehmigt werden, wenn der Heilprozess durch den Urlaub nicht gefährdet oder verzögert wird. Erscheint eine Auslandsreise nicht zielführend für den weiteren Krankheitsverlauf, kann die Krankenkasse die Zustimmung ablehnen. Untersagen kann sie die Reise selbstverständlich nicht – aber der Krankengeldanspruch ist gefährdet.

In der Regel wird auf den Antrag noch vor Urlaubsantritt eine Stellungnahme vom Medizinischen Dienst eingeholt. Diese bildet die Grundlage für die Entscheidung der Krankenkasse.  Damit der Gutachter eine positive Empfehlung abgeben kann, sollte mit dem Antrag auf Zustimmung von dem die Arbeitsunfähigkeit attestierenden Arzt ein Attest vorgelegt werden, aus dem sich ergibt, dass der Heilprozess durch den Urlaub nicht gefährdet oder verzögert wird.

Um zu ermöglichen, dass die Krankenkasse rechtzeitig vor dem Urlaub über den Antrag auf Zustimmung entscheiden kann, sollte ein Zeitpuffer von mindestens 2 bis 3 Wochen vor dem geplanten Urlaubsantritt eingeplant werden. Dies ist bei bereits längerfristig bestehenden AU-Zeiten kein Problem, schwieriger wird es, wenn die Arbeitsunfähigkeit kurz vor dem Urlaub eintritt. Dann ist die Frage, ob der Urlaub einer Genesung entgegensteht oder nicht, besonders relevant.

Bestehen grundsätzlich keine ärztlichen Bedenken, eine Auslandsreise anzutreten, sollte in jedem Fall der Kontakt mit dem Arbeitgeber gesucht werden. Der Arbeitgeber kennt meist den Grund für die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten nicht. Der Versicherte ist auch nicht verpflichtet, diese Auskünfte zu erteilen, jedoch schaffen offene Gespräche Vertrauen und beugen Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit vor.

In diesem Sinne, bleiben Sie gesund und haben Sie eine schöne Urlaubszeit !

 

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

 

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Krankengeldanspruch freiwillig versicherter Selbständige

Immer wieder lehnen gesetzliche Krankenkassen bei freiwillig Versicherten Krankengeldzahlungen mit der Begründung ab, Krankengeldansprüche könnten erst ab der 7. Woche der Arbeitsunfähigkeit (AU) entstehen.

Dazu hatte sich das BSG bereits am 28.03.2019 eindeutig positioniert. Diese Gesetzesauslegung ist falsch und damit rechtswidrig.

In dem vom BSG im Revisionsverfahren B 3 KR 15/17 R zu entscheidenden Fall machte ein hauptberuflich selbständiger Bäckermeister, der freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert war, im Zusammenhang mit einer wiederholten AU wegen einer Lungenerkrankung Krankengeldansprüche geltend.

Hauptberuflich selbstständige Erwerbstätige haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Krankengeld. Es sei denn, sie erklären gegenüber ihrer Krankenkasse, dass die Mitgliedschaft den Anspruch auf Krankengeld umfassen soll (sog. Wahlerklärung). Diese Erklärung sollten alle Selbständigen abgeben. Sie können das gesetzliche Optionskrankengeld wählen (Anspruch auf Krankengeld ab der 7. Woche/43. Tag der AU)  und alternativ oder zusätzlich einen Krankengeld-Wahltarif.

Durch die Wahl des gesetzlichen Optionskrankengeldes erhöht sich der Beitragssatz vom ermäßigten auf den allgemeinen Beitragssatz.

Das Wahltarif-Krankengeld ermöglicht dem Selbständigen im Verhältnis zum Optionskrankengeld den Bezug von Krankengeld ab einem früheren Zeitpunkt, bsp.weise ab dem 15. oder 22.Tag. Die Krankenkassen regeln die Durchführung der Krankengeld-Wahltarife durch Satzung.

Die beklagte Krankenkasse wies in dem BSG-Verfahren den Kläger darauf hin, dass die Ansprüche aufgrund seiner Wahlerklärung erst ab der 7. Woche der AU entstünden, da eine Addition seiner AU-Zeiten bis zur Erreichung von 6 Wochen nicht erfolge.  Die ersten AU-Zeiten hatten keine 6 Wochen erreicht. Nur eine AU, die durchgehend 6 Wochen bestünde, könne beim Fortbestand Krankengeldansprüche auslösen.

Das gegen die Leistungsablehnung angerufene Sozialgericht 1. Instanz hat die Klage abgewiesen, weil der Wortlaut des § 46 S 2 SGB V aF erkennen lasse, dass eine zusammenhängende sechswöchige AU-Zeit erforderlich sei und mehrere auf sechs Wochen addierte Zeiten für den Krankengeld-Beginn nicht ausreichten.

 Im Berufungsverfahren vor dem LSG ist der Kläger dann im Wesentlichen erfolgreich gewesen. Bei dem Kläger habe in den streitgegenständlichen Zeiträumen nach ärztlicher Feststellung AU bestanden, die auf derselben Krankheit (= Erkrankung der Lunge) beruht habe. § 46 S 2 SGB V aF schiebe das Entstehen des Krankengeld-Anspruchs für freiwillig Versicherte nach Abgabe einer entsprechenden Krankengeld-Wahlerklärung zwar um 6 Wochen vom Beginn der AU an auf. Dem Regelungszusammenhang der Norm sei aber nicht zu entnehmen, dass der Krankengeld-Anspruch erst nach einer ununterbrochenen sechswöchigen AU-Dauer entstehe. Die Auslegung belege vielmehr das Gegenteil. Die 6 Wochen, für die dem hier betroffenen Personenkreis (freiwillig versicherte Selbständige) trotz vorliegender AU kein Krankengeld gewährt werde, sei genauso zu errechnen, wie dies bei Arbeitnehmern nach § 3 Abs 1 S 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) der Fall sei. Für Letztere zahle der Arbeitgeber zunächst "bis zur Dauer von 6 Wochen" das Arbeitsentgelt fort, was arbeitsrechtlich allgemein so verstanden werde, dass die einzelnen AU-Zeiten addiert würden, bis die Anspruchszeit von 42 Kalendertagen (= 6 Wochen x 7 Tage) verbraucht sei.

 

Das BSG bestätigte letztlich diese Entscheidung und wies die Revision der Krankenkasse als unbegründet zurück.  Das Entstehen des Krankengeld-Anspruchs des Klägers sei um 6 Wochen vom Beginn der ärztlich festgestellten AU an aufgeschoben. Nach den Feststellungen des LSG beruhte die mit Unterbrechungen beim Kläger bestehende AU auf derselben Lungenerkrankung. Das LSG habe revisionsrechtlich beanstandungsfrei zugrunde gelegt, dass der Krankengeld-Anspruch des Klägers begann, nachdem die Summe seiner AU-Zeiten 42 Kalendertage (= 6 Wochen x 7 Tage) erreicht hatte, also vom 43. Tag seiner AU an.

Das BSG wies in seiner Urteilsbegründung auf den Gesichtspunkt der Gleichbehandlung von Arbeitnehmern mit Selbstständigen hin. Bei der Festlegung des Krankengeld-Beginns ab der 7. AU-Woche für freiwillig krankenversicherte hauptberuflich selbstständig Erwerbstätige (mit einer entsprechenden Wahlerklärung) sollten im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung im Ergebnis bewusst die gleichen Wirkungen herbeigeführt werden wie bei abhängig Beschäftigten.

Dies ist eine wichtige Entscheidung für alle Selbständigen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind – weil sie sich hinsichtlich der Absicherung für den Krankheitsfall an den abhängig Beschäftigten orientiert – die im Regelfall unter einem deutlich besseren sozialen Sicherheitsschirm stehen. Die Arbeitswelt von heute ist geprägt von einer Vielzahl Erwerbstätiger, die selbständig agieren – diese sollten wir beim Thema soziale Absicherung immer mitdenken. Nicht zuletzt ist dies eine Lehre aus der Pandemie, die gerade diese Gruppe besonders hart getroffen hat.

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

Constanze Würfel

 

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Die Künstlersozialversicherung – eine wertvolle soziale und kulturelle Errungenschaft für Publizisten u.a.

Freischaffende Künstler, Autorinnen, Publizisten müssen lediglich 50 Prozent ihrer Sozialversicherungsbeiträge selbst bezahlen. Das trifft sonst nur auf sozialversicherungspflichtig Angestellte zu. Ermöglicht wird dies durch die Künstlersozialversicherung (KSV).

Das Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) ist in Europa einzigartig.1981 wurde es im Deutschen Bundestag verabschiedet, 1987 durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die Versicherung über die Künstlersozialkasse (KSK) ermöglicht vielen Künstlerinnen überhaupt erst, eine künstlerische Tätigkeit in Selbständigkeit aufzunehmen.

Freiberufler wie Anwältinnen oder Ärzte müssen ihre Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Prozent selbst tragen. Für erwerbsmäßig freischaffende Künstlerinnen und Publizisten hingegen sieht das Künstlersozialversicherungsgesetz eine Pflichtversicherung vor, für die sie lediglich 50 Prozent ihrer Beiträge selbst zahlen müssen. Die andere Hälfte übernimmt die KSK und zwar aus einem Zuschuss des Bundes (20 %) und der Künstlersozialabgabe der sog. „Verwerter“ (30 %), das sind Unternehmen, die Kunst und Publizistik verwerten, also Verlage oder Theater, Presseagenturen, Kunsthändlerinnen etc...

Die KSK zieht die Beiträge ihrer versicherten Mitglieder ein und leitet sie weiter an eine Krankenversicherung freier Wahl sowie zur gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung.

Versicherungspflichtig in der KSV sind alle, die auf Dauer und nicht nur vorübergehend eine künstlerische oder publizistische Tätigkeit selbstständig und erwerbsmäßig ausüben.

Publizist* ist, wer als Schriftsteller, Journalistin oder in ähnlicher Weise tätig ist. Selbstständig ist die künstlerische oder publizistische Tätigkeit nur, wenn sie keine abhängige Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses darstellt. Erwerbsmäßig ist jede auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, also kein Hobby.

Erzielt ein selbständiger Künstler oder Publizist nicht mindestens ein voraussichtliches Jahresarbeitseinkommen, das über der gesetzlich festgelegten Grenze liegt, so ist er versicherungsfrei. Das bedeutet, dass weder eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung noch in der Rentenversicherung besteht. Diese Grenze liegt ab dem Jahre 2004 bei 3.900,00 EURO jährlich bzw. 325,00 EURO monatlich.

Berufsanfänger werden auch dann nach dem KSVG in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung versichert, wenn sie voraussichtlich nicht das erforderliche Mindestarbeitseinkommen überschreiten werden. Als Berufsanfängerzeit gelten die ersten drei Jahre seit erstmaliger Aufnahme einer selbständigen künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit.

Wenn der Verdienst aus der selbständigen künstlerischen/publizistischen Tätigkeit allein nicht ausreicht, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten, ist es häufig erforderlich, einen Nebenjob auszuüben.

Ein geringfügiger Nebenjob beeinflusst die Versicherung nach dem KSVG nicht. Das heißt, wenn aufgrund einer selbständigen künstlerischen/publizistischen Tätigkeit bereits die Versicherungspflicht festgestellt wurde, so ändert sich daran durch derartige geringfügige nebenberufliche Aktivitäten nichts.  Eine geringfügige Beschäftigung liegt vor, wenn das Arbeitsentgelt/Arbeitseinkommen eine bestimmte Einkommensgrenze nicht übersteigt, aktuell liegt diese bei 556 EUR. Das heißt, Sie können schreiben, in der KSK versichert sein und nebenbei für 556 Euro in Supermarkt, Bar oder Büro arbeiten.

Überschreitet der Verdienst in dieser Beschäftigung als Arbeitnehmerin diese Grenze behält der Arbeitgeber Beiträge zur Sozialversicherung vom Arbeitsentgelt ein und führt diese an die zuständige Krankenkasse – nicht an die KSK – ab. Daneben hat die KSK die Sozialversicherungsbeiträge aufgrund der selbständigen künstlerischen / publizistischen Tätigkeit zu erheben. Eine Doppeltverbeitragung findet nicht statt. Kranken - und Pflegeversicherung beruhen dagegen ausschließlich auf der hauptberuflichen Erwerbstätigkeit. Welche Erwerbsquelle die hauptberufliche ist, wird anhand einer Gegenüberstellung der wirtschaftlichen Bedeutung (Arbeitszeit und Vergütung) bestimmt.

Ein sozialversicherungspflichtiger Nebenjob neben der selbständigen künstlerischen/publizistischen Tätigkeit bringt also keine Nachteile für die soziale Absicherung mit sich.

Mit der KSK erkennt der Gesetzgeber an, welche wichtige Rolle Publizisten und Künstlerinnen für die Gesellschaft haben. Kunstwerke, Theaterstücke, Journalismus und Bücher fördern die Reflektion auf unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben, unsere Werte. Sie spiegeln unsere Verhältnisse und werfen Fragen zur gesellschaftlichen Verantwortung auf. Damit tragen sie entscheidend zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung bei.

Dieser besonderen Wertschätzung gegenüber der Kunst sollten wir uns erinnern und alles dafür tun, sie beizubehalten.  Unsere Gesellschaft und unser Leben verliert ohne sie an Wert. Daher gilt es sie zu stützen und schützen – auch mit rechtlichen Mitteln.

 

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

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Ist ein Gefährte ein Hilfsmittel ??

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat entschieden, dass die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) keine Kosten für die Ausbildung eines Assistenzhundes als Assistenzhund zum Behinderungsausgleich bei Autismus übernehmen muss,  wenn die Haltung des Hundes für die Versicherte lediglich sinnvoll und nützlich ist, ihr das Rausgehen aus dem Haus erleichtert und soziale Kontakte, z.B zu anderen Hundebesitzern vereinfacht, Beschluss vom 21. Oktober 2024, L 16 KR 131/23, Vorinstanz: SG Oldenburg.

Geklagt hatte eine 49-jährige Frau, die sich 2016 auf Empfehlung ihrer Therapeutin einen Hund angeschafft hatte. Dies erleichterte es ihr, die Wohnung zu verlassen und soziale Kontakte zu pflegen, denn dies fiel ihr aufgrund ihres Autismus sonst schwer.

Zwei Jahre später beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Ausbildung des Hundes zum Autismus-Assistenzhund. Das Tier sei für sie ein Gefährte, der ihr emotionalen Rückhalt und Schutz bei sozialen Kontakten biete. Die regelmäßigen Spaziergänge und Hundetreffen seien an gesundheitsfördernde Unterstützungen. Der Hund gebe ihr Sicherheit, insbesondere in der Öffentlichkeit, er schaffe eine stressfreiere Atmosphäre und ermögliche ihr den Austausch mit anderen Menschen.

Sie legte ein Gutachten eines Psychologen vor. Dieser hatte die Diagnosen Panikstörung, sozialphobische Symptome mit Rückzugs- und Vermeidungsverhalten sowie Depression gestellt.  Er stellte fest, dass ergänzend zur Psychotherapie die Haltung eines Hundes zur Stressreduzierung diene.  Der Klägerin würde durch einen Hund die Kontaktaufnahme zu anderen Menschen leichter fallen und sie würde weniger Vermeidungsverhalten zeigen.

Zudem legte sie eine Stellungnahme einer Betriebsärztin vor, in der dem Arbeitgeber empfohlen wurde, der Begleitung durch den sich derzeit in Ausbildung befindlichen Therapiehund zuzustimmen. Dadurch bestehe die realistische Chance, dass die Klägerin ihre Erwerbsfähigkeit teilweise wiedererlangen könne.

Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab, da die Frau auch ohne speziell ausgebildeten Hund Alltagsgeschäfte bewältigen könne und daher keine Notwendigkeit bestehe. Dagegen klagte die Frau und begründete ihr Begehren damit, dass ihre Erkrankung nicht richtig verstanden werde. Sie fühle sich isoliert und traue sich ohne den Hund oft nicht aus der Wohnung. Ohne eine zertifizierte Ausbildung dürfe sie den Hund nicht überallhin mitnehmen, etwa in Supermärkte, Arztpraxen oder an ihren Arbeitsplatz. Um mehr am sozialen Leben teilhaben zu können, benötige sie die Unterstützung ihres Hundes. Mögliche Ansprüche nach einem anderen Sozialgesetzbuch - insbesondere dem SGB XII - oder einem anderen Kostenträger lehnte sie (leider- Anmerkung der Unterzeichnerin) ausdrücklich ab.

Das LSG bestätigte die Rechtsauffassung der Krankenkasse. Zur Begründung verwies es darauf, dass eine spezielle Ausbildung des Hundes nicht notwendig sei. Dass der Hund bewirke, dass die Klägerin häufiger das Haus verlässt, mit Menschen kommuniziert und ihr ein Sicherheitsgefühl vermittele, treffe auf jeden Hund zu. Die Klägerin verkenne den Umfang der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, deren Aufgabe es nicht sei, alle Behinderungsfolgen in sämtlichen Lebensbereichen auszugleichen. Im Hilfsmittelrecht bestehe kein Anspruch auf eine Optimalversorgung, zumal die Kassen weder für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft noch zur Teilhabe am Arbeitsleben zuständig seien. Ein Gefährte möge für die Klägerin sinnvoll und nützlich sein – dies führe jedoch zu keiner rechtlichen Erforderlichkeit.

Einem Anspruch stehe aber nicht entgegen, dass ein Autismus-Hund anders als der Blindenführhund im Hilfsmittelverzeichnis nicht aufgeführt sei. Das Hilfsmittelverzeichnis verkörpere keine abschließende, die Leistungspflicht der Kranken- und Pflegekassen im Sinne einer Positivliste beschränkende Regelung.

Bei einem ausgebildeten Assistenzhund handele es sich grundsätzlich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V und nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Die Versorgung der Klägerin mit einem ausgebildeten Assistenzhund diene jedoch keinem der in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele und sei im vorliegenden Einzelfall nicht erforderlich. Der Hund sei auch nicht in einen ärztlichen Therapieplan eingebunden.

Einem Anspruch aus § 13 Abs 3 Satz 1 2. Alt SGB V stand aber entgegen, dass der Beschaffungsweg durch die Klägerin nicht eingehalten wurde. Die Klägerin hatte sich bereits vor der Antragstellung bei der Beklagten auf eine bestimmte Art der Leistung festgelegt.

Antrag an die Beklagte wurde im Juni 2018 gestellt, der Ablehnungsbescheid der Beklagten datiert vom 22. Juni 2018, der erste Einzeltrainingstermin fand bereits am 24. Juni 2018 statt. Dieser Ablauf spricht nach der LSG-Entscheidung dafür, dass sich die Klägerin auch bereits vorher festgelegt hatte, unabhängig davon wie eine Entscheidung der Beklagte ausfiel.

Die GKV ist auch nach der neueren Rechtsprechung des BSG nicht für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft oder für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zuständig. Eine Beiladung des SGB XII -Trägers ist von der Klägerin jedoch ausdrücklich abgelehnt worden.

 

Sehr schade, wie dieses Verfahren gelaufen ist – denn ggf. hätte die Klägerin über den SGB-XII Träger ihr Begehren durchsetzen können – als Leistung zur sozialen Teilhabe. Solche Fehler in einem Gerichtsverfahren kann eine fachanwaltliche Vertretung vermeiden!

 

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

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SV-Pflicht eines nebenberuflich tätigen Komparsen

Das Bayerisches LSG entschied am 20.10.2016, dass bei einer Vielzahl von Auftraggebern und der Möglichkeit, einen Auftrag abzulehnen, auch im Dienstleistungsgewerbe eine Tätigkeit als Selbständiger in Frage kommen kann, Az.: 7 R 260/15.

Streitig war der SV-Status eines geringfügig nebenberuflich tätigen Promoters/Moderators/Komparsen – wir nennen ihn hier mal fiktiv „Herr Feuerstein“. Er erhielt Einzelaufträge von einem Unternehmen - wir nennen es hier mal die „Film GmbH“.

Die zuständige Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung (DRV) stellte fest, dass die Gesamtwürdigung aller für die zu beurteilende Tätigkeit relevanten Umstände ergeben habe, dass die Merkmale für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis überwiegen würden. Dass die Tätigkeit lediglich nebenberuflich geringfügig ausgeübt werde, sei kein Indiz für eine selbstständige Tätigkeit, da sowohl abhängige Beschäftigungen als auch selbstständige Tätigkeiten in geringfügigem Umfang ausgeübt werden könnten. Herr Feuerstein sei in die Arbeitsorganisation der Film GmbH eingegliedert. Die Film GmbH habe ein Weisungsrecht in Bezug auf Ort, Art und Weise der Tätigkeit für den jeweils erteilten Einzelauftrag. Herr Feuerstein sei an feste Vorgaben der Film GmbH gebunden. Soweit er für mehrere Auftraggeber tätig sei, schließe dies das Vorliegen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ebenfalls nicht zwangsläufig aus. Auch abhängig Beschäftigte könnten mehrere Beschäftigungsverhältnisse gleichzeitig eingehen. Vielmehr sei jedes Vertragsverhältnis einzeln zu beurteilen.

Die Film GmbH klagte gegen diese Entscheidung. Herrn Feuerstein übe ein Gewerbe als Selbstständiger aus und lebe überwiegend von eigenen Weihnachtsmarktständen, aber auch von Tätigkeiten als Komparse und Testeinkäufer für zahlreiche Firmen. Er habe viele Aufträge von diversen Firmen. Er besorge sich auch Aufträge aus Internetplattformen. Er erhalte von der Film GmbH Einzelaufträge ohne vertragliche Bindung an diese. Wenn eine Anfrage mit Angabe von Ort und Zeit erfolge, könne Herr Feuerstein entscheiden, ob er den Auftrag annehme, je nach dem , ob er zeitlich verfügbar und der Auftrag lukrativ für ihn sei.


Herr Feuerstein werde nach Abschluss eines Vertrages für einen Einzelauftrag auch bei Kunden der Film GmbH tätig, die mit dieser dann abrechneten. Herr Feuerstein stelle dann der Film GmbH für seine Tätigkeit eine Rechnung, wie für den jeweiligen Einzelauftrag vereinbart. Als "Walking Act-Promoter" präsentiere er für die Film GmbH oder deren Kunden Produkte. Unter anderem habe dieser den Film "C." dergestalt promotet, dass er als einer der Charaktere von C. kostümiert war. Auch in der Kaufhausabteilung von K. habe Herr Feuerstein in wechselnden Kostümen Kinder zum Mitspielen animiert und betreut.

Als Promoter verteile Herr Feuerstein Werbeartikel von Kooperationspartnern (z. B. Rosen, Sekt u.a.), auch verteile er gelegentlich Werbeartikel von Kooperationspartnern oberkörperfrei.

Die genannten Tätigkeiten übe Herr Feuerstein auch für andere Auftraggeber aus, die mit der Film GmbH auf dem Markt durchaus in Konkurrenz stünden. Ein Konkurrenzverbot sei nicht vereinbart worden.

Das Sozialgericht München hob in der 1. Instanz den Bescheid der DRV auf und stellte fest, dass die Tätigkeit des Herrn Feuerstein für die Film GmbH nicht im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde und damit keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung bestehe.


Das Gericht könne weder eine Weisungsgebundenheit noch eine Eingliederung in den Geschäftsbetrieb der Film GmbH erkennen. Herr Feuerstein werde als Auftragnehmer in einer Datenbank mit einer Vielzahl von anderen Auftragnehmern für vergleichbare Tätigkeiten geführt. Die Vertragsmodalitäten bezüglich Ort und Dauer des Einsatzes seien keine Weisungen, sondern Auftragsmodalitäten des hierfür vorliegenden typengemischten Vertrages.


Daneben sprächen viele andere Indizien für eine Selbstständigkeit. Herr Feuerstein habe viele unternehmerische Standbeine, da er nicht nur von der Film GmbH Aufträge erhalte. Er betreibe Werbung, bemühe sich aktiv um die Neuakquise von Aufträgen und unterhalte Profile in einschlägigen Datenbanken. Die Aufträge würden von der Film GmbH, wie auch von anderen Auftraggebern tageweise vergeben, so dass Lücken von mehreren Wochen oder gar Monaten bis zur nächsten Auftragsvergabe entstehen könnten.  


Demgegenüber würden die Argumente, die für eine abhängige Beschäftigung sprächen, nicht ins Gewicht fallen. Die Vorgabe der Arbeitszeit in den Aufträgen und die Bezahlung nach Stundenlohn seien zwar Merkmale des Typus des Dienstvertrages, aber für die ausgeübten Tätigkeiten, die eine gestalterische Dienstleistung durch Herrn Feuerstein erfordere, nachvollziehbar. Soweit dieser nur ein relativ geringes unternehmerisches Risiko trage, sei dies für kleinere Dienstleistungsunternehmer typisch.


Auf die Berufung der DRV hin hat das LSG die Entscheidung des SG München im Kern bestätigt. Abzustellen sei auf das Gewerbe des Herrn Feuerstein insgesamt, das aus der Annahme von Einzelaufträgen in der Werbebranche bestehe, bei denen er überwiegend seine persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine schauspielerischen und verkaufsfördernden Fähigkeiten einsetzt.

Unter Wertung sämtlicher Merkmale, die einerseits für eine abhängige Beschäftigung und andererseits für eine selbständige Tätigkeit sprechen, kommt das LSG zu dem Ergebnis, dass Herr Feuerstein im Rahmen seines Dienstleistungsunternehmens die einzelnen Aufträge für die Film GmbH als Selbständiger durchgeführt hat.

Das Gewerbe und die Auftragskonstellation des Herrn Feuerstein sind nicht alltäglich. Gleichwohl denke ich, gibt es nicht wenige, die vergleichbar für mehrere Auftraggeber tätig werden und sich bei jedem neu angenommenen Auftrag die Frage stellen müssen, ob es sich dabei nun um eine selbständige oder eine abhängige Beschäftigung handelt. Denn daran knüpft sich die konkrete soziale Absicherung.  Und die ist bekanntlich bei Soloselbstständigen oder Kleinunternehmern oft noch prekär.

 

Constanze Würfel

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht

 

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